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Besuch der Gerichtsverhandlung gegen ehemaligen KZ-Wachmann

24.11.2021

 

Nachdem wir, die Klasse 10d von Frau Saam, im Sommer bereits das Konzentrationslager Sachsenhausen besichtigt hatten, beschäftigten wir uns im Deutschunterricht anhand der Lektüre „Der Vorleser“ von B. Schlink mit der Schuldfrage. Hierzu gehörte auch das Nachspielen einer Gerichtsverhandlung – zu diesem Zeitpunkt ahnten wir noch nicht, dass wir Anfang November die Chance bekommen würden, einer Gerichtsverhandlung in Brandenburg beizuwohnen, bei der sich ein ehemaliger Wachmann des Konzentrationslagers Sachsenhausen und ein Überlebender gegenübersaßen. Es war ein emotionaler Prozesstag und wahrscheinlich auch die letzte Möglichkeit, den persönlichen Bericht eines Holocaust-Überlebenden zu hören.

Mit einem Brief an den Zeugen Emil Farkas haben wir uns als Klasse u.a. für seinen Mut, nach so vielen Jahren vor einem deutschen Gericht auszusagen, bedankt. Mia hat den Prozesstag in einer Reportage festgehalten, die ihr hier lesen könnt:

 

„Seid stark! Haltet durch! Wir werden uns wiedersehen!“

„Hiermit ermahne ich Sie, vor dem Gericht die Wahrheit zu sagen und nichts als die vollständige und unveränderte Wahrheit“, sprach der Richter am 4. November 2021 vom Podest zum Zeugen Emil Farkas.

Der 92-Jährige reiste für seine Aussage extra aus Israel an. Er war einer der vielen Opfer des Holocausts, überlebte die Zeit in mehreren Konzentrationslagern, unter anderem das Konzentrationslager Sachsenhausen. Somit wurde er vom Landgericht nach Brandenburg a.d. Havel geladen, um seine Erlebnisse zu schildern und die Tat des Angeklagten, der dort als Wärter arbeitete, zu bestätigen.

Der, im Herbst letzten Jahres, 100 Jahre alt gewordene Josef S. ist wegen Beihilfe zum Mord in mehr als 3000 Fällen angeklagt. Dieser Prozess ist einer der letzten in dem Bereich und somit ein historisches Ereignis.

 

Die Stimmung im Gerichtssaal war angespannt, wie man schon beim Betreten des Gebäudes bemerkte. Menschen murmelten miteinander, ein Gefühl der Unsicherheit verbreitete sich. Überall standen oder saßen Leute und unterhielten sich angeregt oder warteten einfach, bis etwas passierte. Auf einmal betraten die Richter den Saal und die Gespräche wurden eingestellt. Nacheinander erhoben sich alle Beteiligten. In einem Moment war nur das Klicken der Kameras und Aufnahmegeräte zu hören, dann unterbrach der Richter die Geräuschkulisse und bat die Journalisten, ihre Arbeit einzustellen. „Bitte setzen Sie sich.“ Der Aufforderung wurde Folge geleistet und die Anwalts- und Staatsanwaltschaft begannen, leise Gespräche untereinander zu führen. Die Anspannung fiel deutlich ab und der Richter Udo Lechtermann nahm Platz hinter seinem Podest. Seine erste Frage ging an den Angeklagten und richtete sich nach seinem Wohlbefinden. Dieser hatte offenbar Probleme mit dem Hören und war kurz zuvor operiert worden. Nach einigen Minuten bat der Richter auch schon den Zeugen Emil Farkas nach vorne. Begleitet von einem engen Verwandten und dem Dolmetscher betraten sie den Zeugenstand. Da der 92-Jährige nicht gut Deutsch sprach und auch emotional nicht dazu in der Lage war, wurde die Zeugenaussage in Form eines Briefes verlesen, den er mithilfe seines Anwalts zusammengestellt hatte. Nach der Belehrung des Richters wurde auch schon die traurige und mitreißende Geschichte seines Lebens erzählt. Wie sie in der Slowakei 1929 mit einer glücklichen Familie begann und mit der Zeit immer düsterer wurde. Es wurde von seiner damaligen Liebe und Leidenschaft zum Turnen erzählt, davon wie stolz er anfangs war, den gelben Judenstern zu tragen und von seiner kleinen Nichte Erika. Dann von den weiteren schlimmen Einschränkungen, die er mit den Jahren immer mehr verstand. Als er schließlich sieben Jahre alt war, begannen die Transporte und seine Familie wurde getrennt. Zwei seiner drei älteren Brüder und seine Schwester mit ihrem Kind Erika wurden als erstes weggeschickt. Er sah sie nie wieder. Nach einigen weiteren harten Jahren, in denen sein Vater sich Widerstandskämpfern angeschlossen hatte, wurden auch er, sein Bruder und seine Mutter auf eine Liste gesetzt und sollten in ein Konzentrationslager kommen. Nachts dann stürmten Soldaten das Haus und brachten sie zum Zug. Bei der Aufteilung wurde seine Mutter jedoch in einen anderen Wagon gezerrt und er hörte sie immer wieder drei Sätze schreien, “Seid stark! Haltet durch! Wir werden uns wiedersehen!“ „Diese Worte haben mir die Kraft gegeben am Leben zu bleiben“, las der Übersetzer vor und die Augen einiger Zuhörenden füllten sich mit Tränen. Er wurde schlussendlich mit seinem Bruder ins Konzentrationslager Sachsenhausen deportiert. Sein Empfang, ein SS-Wachmann, der darauf hindeutete, dass sie brutal erhängt werden, ließ erkennen, wie hart die folgenden Wochen werden würden. Überall liefen laut Farkas „Muselmänner“ herum. Sie bekamen am Tag nur ein kleines Stück Brot und eine Suppe ohne Nährstoff. Ungefähr 80 Leute mussten sich eine Baracke teilen, in denen Hochbetten ohne Matratzen oder Decken standen. Im Winter war es so kalt, dass viele Menschen über Nacht starben. Es gab weder Heizungen noch ein Feuer zum Wärmen und die Baracke bestanden nur aus Holz. Waschen konnten sie sich auch nicht, deswegen ging Emil Farkas morgens früh im Winter raus und benutzte den Schnee. Danach machte er Turnübungen. So kam es, dass ein Wachmann dies bemerkte und erkannte, wie professionell er war. Er wurde daraufhin in das berühmte Schuhläufer-Kommando eingeteilt. Das heißt, der 15-Jährige Emil Farkas musste jeden Tag mit unterschiedlichen Schuhen 40 km durch Kies, Schlamm, Schnee, Schotter usw. marschieren. Und als sei das noch nicht genug, wurde er dazu gezwungen, immer wieder ein Lied zu singen. Das Lied hatte den gleichen Namen wie seine kleine Nichte und obwohl der 92-Jährige sich an vieles nicht erinnern konnte, sang er nun vor dem Richter das Lied „Erika“. Weiter wurde noch von einer Situation erzählt, in der Insassen, nicht älter als 14, sich gegen die elektrischen Sicherheitszäune warfen, da sie es einfach nicht mehr aushielten. Jeden Tag starben Menschen und es war keine Besonderheit, eine Leiche zu sehen. Irgendwann im Frühjahr wurde er nach Bergen-Belsen deportiert und später auch nach Dachau. Und als der Krieg schließlich vorbei war und er alles durchgestanden hatte, suchte er nach seiner Familie. Alle Anwesenden dachten, dass die Mutter gestorben sei und bereiteten sich schon darauf vor, jedoch hatte die Mutter ihr Versprechen nicht gebrochen und sie fanden sich wieder. Zusammen mit dem Vater, der ebenfalls überlebt hatte, wanderten sie einige Zeit später nach Israel aus. Er bekam schließlich einen Job als Sportlehrer und sie lebten zusammen in einem Haus. Das Geschehene ließ jedoch bei jedem von ihnen Narben zurück. „Niemand erzählte irgendwas. Alle wussten was passiert ist, aber keiner redete darüber“, meinte der Zeuge im Nachhinein.

„Und jetzt würde ich Ihnen gerne noch etwas mitteilen, Herr S.“, las der Übersetzer weiter vor. „Trotz all dieser Gräueltaten, die ich und meine Familie durchmachen mussten, ist es Ihnen nicht gelungen, mich in zwei Sachen zu brechen. Einmal haben Sie es nicht geschafft, mich und meine Familie auseinanderzureißen und Sie haben es nicht geschafft, mich gegen das Turnen zu wenden.“ Alle im Raum hielten den Atem an, doch der Angeklagte ließ keine Reaktion erkennen. „Ich wünsche, dass Sie sich entschuldigen. Für all das, was das System mir und meiner Familie angetan hat. Das System, dem Sie freiwillig unterstanden haben. Sie, der nun hier das 100-fache von Jahren älter geworden ist als unsere Erika.“ Der Übersetzer brachte den letzten Satz nur mit Mühe raus. Seine Stimme zitterte und brach schließlich ganz. Tränen benetzten die Augen der Anwesenden und alle warteten gespannt auf eine Antwort des Angeklagten. Jedoch nach einem eindeutigen Kopfschütteln seines Anwaltes war klar, dass nichts mehr kommen würde und der Richter unterbrach den Prozess für eine zehnminütige Pause. Nach der Pause wurden noch einige Fragen zum Konzentrationslager Sachenhausen an Emil Farkas gestellt. Zum Schluss bedankte er sich herzlich und rührend, dass er seine Geschichte nach den vielen Jahren des Schweigens erzählen durfte und man ihm bis zum Schluss zugehört hatte.

 

Bild zur Meldung: Besuch der Gerichtsverhandlung gegen ehemaligen KZ-Wachmann